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Ausweitung der Komfortzone


Digit!, DE

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Mithilfe komplexer Shooting- und Postproduktionsprozesse dekonstruiert der Schweizer Roger Weiss den weiblichen Körper und stellt dem medialen Schönheitsideal irritierende Aktkompositionen gegenüber. Von Peter Schuffelen


Es sind verstörende Bilder, die der Schweizer Fotokünstler unter dem Namen „Human Dilatations“ – übersetzbar etwa mit „die Ausweitung des Mensch(lich)en“ – produziert hat. Nackte Frauenkörper mit überlangen Gliedmaßen und gestreckten Torsi, die Proportionen sind buchstäblich „verrückt“, in die Länge gezogen, bisweilen erinnern sie an die Skulpturen des ebenfalls aus der Schweiz stammenden Bildhauers Alberto Giacometti. Die Prints, die Weiss von der Serie fertigt und in kleiner Stückzahl auflegt, sind von großem Format und von atemberaubender Detailtreue – theoretisch ließen sie sich bis auf vier mal zweieinhalb Meter aufblasen. Die visuelle Wirkung der hohen Auflösung von 47.244 x 32.864 Pixeln erfährt man indes nur, wenn man direkt vor den überlebensgroßen Inkjetdrucken steht – weshalb Weiss auf seiner Website Details herausvergrößert hat: Hautfalten, Fingernägel, Augenbrauen, Hautunreinheiten, Abschürfungen, Schwielen, Tattoos, alles gestochen scharf, in makroskopischer Ansicht und dazu gnadenlos ausgeleuchtet. Weiss, von Hause aus Modefotograf, hat zu Beginn des Projekts mit männlichen und weiblichen Models unterschiedlichen Alters experimentiert, sich am Ende aber für junge, attraktive Frauen entschieden – aus konzeptuellen Gründen, wie er im digit! Interview erklärt. Trotzdem: Mit klassischen Nudes, mit erotischer Fotografie gar, hat

„Human Dilatations“ bei aller Nacktheit in etwa so viel zu tun wie ein Hering mit den euphemistischen, in Photoshop zu unwirklicher Perfektion hochgejazzten Werbesujets oder Erotik-Sites.

Der Grund: Weiss meidet die Unvollkommenheit nicht etwa, er zelebriert sie geradezu. Der Absolvent der Mailänder Akademie der Schönen Künste hat sich durch die japanische Kintsugi-Technik inspirieren lassen, eine traditionellen japanischen Methode zur Reparatur von Porzellan, welche die Versehrtheit des Materials absichtsvoll betont, indem sie die Bruchstücke mit einer Kittmasse kunstvoll zusammensetzt, der Gold- oder Platinstaub beigemengt ist. Angelehnt an das ästhetische Leitbild des Wabi Sabi erhebt diese Technik die Unvollkommenheit zum Schönheitsideal. Weiss adaptiert das Prinzip des Fragmentierens und Wiederzusammenfügens zu einem neuen ästhetischen Ganzen fotografisch. Das spiegelt sich nicht nur in den finalen Bildern des Werkzyklus‘ wider, sondern auch im Schaffensprozess. So bestehen die einzelnen Bilder aus 200 oder mehr Einzelmotiven. Weiss lichtet dazu den kompletten Körper von unten nach oben mit Objektiven unterschiedlicher Brennweite ab und rekonstruiert den Körper aus den einzelnen Shots in einem schier uferlosen, bis zu 14 Stunden dauernden Composing-Prozess (siehe Interview), den er auf seiner Website als Zeitraffervideo dokumentiert. Dank dieser Technik ist der Betrachter in der Lage, jede einzelne Körperstelle bis ins letzte Detail zu „erfahren“, alle „Makel“ inklusive. Die ungefilterte Konfrontation mit dem Körperlichen wie auch dessen Verzerrung mögen auf den ersten Blick irritieren, ja vielleicht sogar schockieren. Sie unterstreichen im zweiten Moment aber die Mannigfaltigkeit des menschlichen Körpers. Indem er ihn gezielt verzerrt, hinterfragt Weiss das medial vermittelte uniforme Muster (weiblicher) Attraktivität. Zugleich erklärt er die Imperfektion zum begehrenswerten ästhetischen Prinzip.

„Natürlich ging es mir darum, das klassische, medial vermittelte Schönheitsideal infrage zu stellen“, sagt der Tessiner Fotokünstler.„‚Human Dilatations‘ sucht die Zeichen der Unvollkommenheit und Hinfälligkeit des Körpers, löst sich durch das Spiel der Verzerrungen vom stereotypischen und heuchlerischen Begriff der Schönheit und fördert damit das Bild des Weiblichen als Ganzem. Gleichzeitig war es mir wichtig, deutlich zu machen, dass es um meinen, also um einen männlichen Blick auf den weiblichen Körper geht.“


Aufklärerische „Fleischbeschau“: „I am flesh“



Noch offensichtlicher ist dieser männliche Blick in Weiss‘ Vorgängerprojekt, das den eindeutig zweideutigen Titel „I am flesh“ trägt. Statt mit Verzerrungen arbeitet er hier mit den Mitteln der Standardisierung. Der Zyklus umfasst 35 Aktaufnahmen junger, attraktiver Frauen, die in identischer Weise frontal, stolz und mit maximaler Körperspannung vor der Kamera posieren, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
Die Ganzkörperportraits sind ungeschönt, gnadenlos ausgeleuchtet, zentralperspektivisch fotografiert und von einer unbarmherzigen Auflösung, die mit demokratischem Blick alles gleichermaßen betont: das Gesicht, den Rumpf, Vagina, Brüste, die Haut. Auch wenn der Projektname etwas anderes suggeriert: „I am flesh“ hat ebenso wenig mit erotischer oder gar pornografischer Fotografie zu tun wie „Human Dilatations“. Der erotischen Objektivierung steht gerade diese „objektive“ Blick des Fotografen entgegen. Irritierend sind aber nicht nur das Uniforme, sondern auch wieder die kleinen und größeren „Defekte“, darunter Pickel, Tätowierungen, blaue Flecken, Narben, Brüste mit Implantaten, ein amputierter Unterschenkel oder eine amputierte Brust. Am Ende hat „I am flesh“ etwas zugleich Menschliches wie Androides. „Ich habe die Standardisierung gewählt, um in dieser Serie meine persönliche Sicht möglichst vollständig zu eliminieren“, sagt Weiss. „Was mich vielmehr interessiert hat, war, dass man jedes Detail sieht. Es ging mir darum, eine Art Landkarte des jeweiligen Körpers zu schaffen und zugleich die Würde jeder einzelnen Frau zu bewahren, die durch ihren stolzen Blick zum Ausdruck kommt.“

Als Nächstes plant Weiss ein Projekt, das beide Werkreihen – „Human Dilatations“ und „I am flesh“ in einem dialektischem These-Antithese-Spiel zu einer neuen Synthese treibt. Auf das Ergebnis darf man getrost gespannt sein.


„Die menschliche Suche sichtbar machen.“



Herr Weiss, was uns auffällt: In „Human Dilatations“ sind die Gesichter der Frauen kaum oder gar nicht zu sehen. Warum?
Weil es mir nicht darum ging, das einzelne Individuum zu zeigen, ich wollte vielmehr einen verallgemeinernden Effekt erzielen, einen ästhetischen Effekt, der für alle Frauen gleichermaßen gilt, eine Art Totem, wenn man so will. Außerdem wollte ich auf jene beiden Elemente abheben, die die Suche des zeitgenössischen Menschen bestimmen: das Streben nach körperlicher Perfektion und die dominierende Rolle, die der Verstand spielt.

Sieht man von den Verzerrungen ab, sind alle Models jung und schön. Warum?
Ich wollte, dass man sich auf die ungewohnten Perspektiven und die reine Form konzentriert und nicht auf Merkmale wie etwa eine faltige Haut, die vom Eigentlichen ablenkt.

Woher stammen die Models bei „Human Dilatations“ und „I am flesh“?
Das waren in beiden Fällen Freundinnen von mir, die mitgemacht haben, weil sie an mein Langzeitprojekt glauben. Gerade die frontale Konfrontation mit dem Körper bei „I am flesh“ war nicht einfach für die, die mitgemacht haben – zumal man ja auch das Gesicht sieht. Ich bin sehr froh, dass die Modelle mitgemacht haben – ein echtes Geschenk.

Jedes einzelne Bild von „Human Dilatations“ ist aus 100, 200, manchmal sogar 300 Einzelaufnahmen zusammengefügt. Warum diese große Anzahl?
Es ist vor allem eine Frage der hohen Schärfentiefe, die ich erreichen wollte. Obwohl ich sehr starkes Blitzlicht und kleine Blenden nutze, ist der Schärfentiefenbereich wegen des geringen Aufnahmeabstands ziemlich begrenzt. Angenommen, ich fange mit einer Hand an, dann ist bereits der Arm unscharf, also „scanne“ ich den Körper nach und nach mit der Kamera ab.

Wie müssen wir uns das Shooting vorstellen?
Es gibt, grob gesagt, drei Phasen. Als Erstes nutze ich ein Makro oder ein 50-mm-Objektiv und fotografiere frontal. Wenn ich Verzerrungen einbauen will, fotografiere ich mit einem Weitwinkelobjektiv aus vielen unterschiedlichen anderen Perspektiven. Die Gesichter bzw. Köpfe fotografiere ich hingegen mit einem Tele.

Warum arbeiten Sie mit einer Kleinbild- und nicht mit einer Mittelformatkamera?
Das hat praktische Gründe. Schon bei einer Kleinbildkamera summieren sich die Datenmengen wegen der Vielzahl der Einzelbilder auf 20 Gigabyte. Würde ich mit einer Mittelformatkamera fotografieren, müsste ich mir einen ultrapotenten Spezialrechner bauen lassen, um die Verzerrungen hineinzurechnen.

Was haben die gelben Punkte auf dem Körper der Frauen zu bedeuten?
Das sind Markierungen, die mir beim Composing helfen. Sie zeigen den Punkt, an dem die Schärfentiefe abriss. Ich habe sie auf den Körpern belassen, um diesen Prozess für den Betrachter sichtbar zu machen. Das Composing und die Postproduktion dauern pro Bild 14 Stunden und mehr.

Ist das nicht ein sehr ermüdender Prozess?
Nein, für mich hat das etwas von einem Mantra. So sehe ich, wie die Arbeit nach und nach in all ihren Details wächst, bis ich die gewünschte Form erreicht habe. Es hat etwas von der Arbeit eines Bildhauers.

Neben Ihren freien Projekten arbeiten Sie für Modezeitschriften und Modehäuser, die ja völlig andere ästhetische Paradigmen haben. Wie passt das zusammen?
Ziemlich gut. Die Modefotografie hat mich gezwungen, absolut professionell zu arbeiten – schließlich geht es darum, ein perfektes Produkt abzuliefern – eine gute Schule. In meinen freien Arbeiten bin ich hingegen wirklich frei.